Wenn es um den Radweg an der „mittleren Bahnhofstraße“ geht (gemeint ist das Stück zwischen Lange Str./Am weißen Sande und Denkmal bzw. Rathaus) könnte ich mir die Sache leicht machen. Etwa mit einem Satz: „Es gibt keinen.“ So leicht will ich es aber nicht machen. Seit Jahren nämlich ist dieser Teil der Bahnhofstraße ein Paradebeispiel für das Dilemma der Radverkehrsplanung in Osterholz-Scharmbeck.
Deshalb mache ich es mir mit Absicht schwer und beleuchte das Problem etwas tiefgreifender. Letztlich will ich auch versuchen, Verbesserungen im Interesse möglichst aller Verkehrsteilnehmer vorzuschlagen. Eilige Leser muss ich gleich warnen: die gebotene Ausführlichkeit wird 15 Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Auch wenn ich verspreche, mich möglichst kurz zu halten.
Das Problem: Kein Radweg in der mittleren Bahnhofstraße
„Auf dem Bürgersteig wird man als Fußgänger oft und rüde aus dem Weg geklingelt” … „Bei Tempo 50 Radfahrer auf die Straße zu zwingen, funktioniert nicht” aus dem Leitartikel ‚Radler flüchten vor Autos auf den Gehweg‘ 7.3.2015
„Die Bahnhofstraße ist eine Katastrophe” … „Als Radfahrer fühlt man sich immer unwohl und oft bedrängt” aus dem Leitartikel ‚Es läuft nicht rund in der Kreisstadt‘ 12.7.2017
Dabei geht es im Wesentlichen um diese Erfahrungen bzw. Beobachtungen:
- Radfahrer auf den Gehwegen belästigen und behindern Fußgänger,
- Radfahrer auf der Fahrbahn behindern den Autoverkehr und
- Autofahrer behindern und belästigen Radfahrer auf der Fahrbahn.
Rückblick
1930 war die (Verkehrs-)Welt in Scharmbeck noch in Ordnung und Radwege waren überflüssig. Fußgänger, Radfahrer und die wenigen Autofahrer kannten sich vermutlich mit Vornamen und kamen meist gut miteinander zurecht.
Die Gebäude entlang des mittleren Abschnittes der Bahnhofstraße sind größtenteils Ende des 19. Jh. entstanden, nachdem Bauunternehmer Johann Steeneck dem Flecken Scharmbeck 1887 die dortige Sandkuhle „Weißer Sand“ abgekauft und für Bauplätze erschlossen hatte. Zunächst wurden überwiegend Wohnhäuser gebaut, u. a. auch die „Zülch-Villa“ des Reemtsma-Schwagers. Als Hauptverbindungsweg vom Scharmbecker Zentrum zum Bahnhof gewann die Bahnhofstraße aber rasch an Bedeutung und wurde zur „heimlichen Hauptstraße“. 1901 erhielt sie ein 1.5 m breites Trottoir und 1902 wurde sie mit Lindenbäumen bepflanzt, zahlreiche Häuser wurden zu Geschäftshäusern oder Gaststätten umgebaut.
1954 fielen die Linden dem Interesse an einem besseren Verkehrsfluss zum Opfer. 2003 wurde dieser Abschnitt der Bahnhofstraße von der Stadt unter finanzieller Beteiligung des Landkreises für € 800.000 umgebaut und erhielt sein heutiges Aussehen.
Status Quo
Der Abschnitt der Bahnhofstraße zwischen Lange Straße und Denkmal ist knapp 300 m lang und fast gerade. Er gehört zur Kreisstraße 45 (K45), die von der Schwaneweder Straße zur Bördestraße führt. Bei beidseits durchgehender Bebauung sind im Erdgeschoss der meisten Gebäude Ladengeschäfte, Versicherungsagenturen oder Restaurants angesiedelt. Daneben finden sich mehrere reine Wohngebäude, ein Bestatter, ein Anwalt, ein ambulanter Pflegedienst, ein Palliativnetz, ein Anzeigenblatt, ein Friseur, eine Fahrschule und ein Reisebüro.Für eine Geschäftsstraße ist der Straßenquerschnitt besonders im westlichen Teil recht eng, an der schmalsten Stelle zwischen den Gebäuden mit den Hausnummern 93 und 74 beträgt die lichte Weite ziemlich genau 12.24 m.
Auf der Fahrbahn besteht in beiden Fahrtrichtungen absolutes Halteverbot, am Straßenrand sind Parkbuchten für knapp 20 Pkw angelegt. Radwege sind nicht vorhanden. Für Kfz gilt die Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaft von 50 km/h. Ein Radfahrer, der in der Ebene mit 19 km/h fährt, erreicht hier bergauf 11 km/h und bergab 29 km/h.
Optisch vermittelt dieser Abschnitt der Bahnhofstraße das Bild einer städtischen Durchgangsstraße aus den 70er- bis 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie atmet fast das Leitbild der autogerechten Stadt, drängt Fußgänger an den Straßenrand und macht Radfahrern Angst, sie zu benutzen. Eigentlich kostbarer und gerade hier knapper öffentlicher Raum wird als kostenloser Abstellplatz für Autos verwendet, die Fahrbahn ist so breit und gerade wie irgend möglich.
Der Seitenraum ist durch Bäume optisch aufgewertet, lädt ansonsten aber fast nirgendwo zum Schlendern oder Verweilen ein. Angesichts mehrere Engstellen und zu Spitzenzeiten mehr als 50 Radfahrern pro Stunde auf den Gehwegen (davon 8 regelkonform auf Grund ihres Alters) ist die Bahnhofstraße für Fußgänger hier zeitweise eine wirkliche Zumutung.
StVO, Verwaltungsvorschrift zur StVO, Richtlinien und Empfehlungen
Im Bemühen um eine Veränderung kommt man nicht umhin, einschlägige Verordnungen, Richtlinien und Empfehlungen zu Rate zu ziehen. Wenn Sie an dieser recht trockenen Materie keinen Spaß haben, überspringen Sie dieses Kapitel ruhig erstmal.
Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)
Die StVO ist eine Rechtsverordnung der Bundesregierung. Sie gilt auf deutschen Straßen für alle in- und ausländischen Fahrzeuge inkl. Fahrrädern und deren Fahrzeugführer.
Der StVO zur Folge müssen Radfahrer, die älter als 10 Jahre sind, auf diesem Teilstück der Bahnhofstraße auf der Fahrbahn fahren. Nur wer ein Kind unter 10 Jahren begleitet, darf mit ihm zusammen auf dem Gehweg fahren. Dabei dürfen Fußgänger nicht behindert werden.
Weiter westlich dürfen Radfahrer auch auf den teilweise vorhandenen Radwegen fahren, auch wenn dies nicht mehr durch die Schilder mit dem weißen Fahrrad auf blauem Grund angezeigt wird, allerdings nur auf den in ihrer Richtung jeweils rechtsseitigen Radwegen.
Autofahrer dürfen Radfahrer nur überholen, wenn jegliche Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Außerdem muss „ausreichender“ Seitenabstand zum Radfahrer eingehalten werden. Dafür gibt es keine allgemein gültige Regel, Gerichte gehen davon aus, dass es auf die jeweiligen Verkehrsverhältnisse ankommt. So hielt etwa das OLG Frankfurt 1980 einen Seitenabstand von 2 m beim Überholen von radfahrenden Kindern auf ansteigender Straße für erforderlich. (vgl. OLG Frankfurt, Az.: 2 Ss 478/80)
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO)
Hinsichtlich der Gestaltung von Radverkehrsanlagen wird auf die (ERA) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) in der jeweils gültigen Fassung hingewiesen.
Das Bundesverkehrsministerium hat 2008 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass stets die Bestimmungen der StVO und der VwV-StVO massgeblich sind, sollten sie mit anderweitigen Richtlinien z. B. der RASt nicht im Einklang stehen.
Bezüglich nicht-benutzungspflichtiger Radverkehrsanlagen enthält die VwV-StVO nur wenige Angaben zu erforderlichen Abmessungen. Für Schutzstreifen werden nur noch Mindestmaße für den verbleibenden Teil der Fahrbahn genannt (vgl. Textauszüge re.), ansonsten wird in der Neufassung der VwV-StVO ausdrücklich auf die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) verwiesen.
Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA)
Die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen Ausgabe 2010 (ERA 2010) sind ein technisches Regelwerk für Planung, Entwurf, Bau und Betrieb von Radverkehrsanlagen in Deutschland, herausgegeben von der Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen (FGSV). Sie gelten für den Neubau und wesentliche Änderungen von Straßen, für bestehende Straßen wird ihre Anwendung empfohlen. Auch wenn die Verfasser der ERA 2010 nicht legitimiert sind, Aussagen der StVO authentisch zu interpretieren, nehmen die ERA eine Sonderstellung unter vergleichbaren Empfehlungen ein, weil Verwaltungsgerichte sie regelhaft als aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisquelle berücksichtigen und die VwV-StVO ausdrücklich auf sie verweist (vgl. Verwaltungsgericht Braunschweig 2013 Az 6 A 64/11).
Eine der wesentlichen Aussagen der ERA 2010 betrifft die Eignung bestimmter Führungsformen des Radverkehrs in Abhängigkeit von der Stärke und der Geschwindigkeit des Kfz-Verkehrs. Je nach Kfz-Belastung in der werktäglichen Spitzenstunde und der zulässigen Höchstgeschwindigkeit werden vier Belastungsbereiche unterscheiden, dabei sollen die Übergänge zwischen den Belastungsbereichen nicht als harte Trennlinien verstanden werden.
Der Ist-Zustand auf der mittleren Bahnhofstraße (roter Stern in der Abb.) findet sich im Übergangsbereich zwischen Bereich II und III. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h (grüner Stern) würde man in die Trennzone zwischen Bereich I und II gelangen, was auch den jetzigen Zustand mit Mischverkehr auf der Fahrbahn erlauben würde.
Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06)
Die RASt 06 wurden 2007 von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen in Köln herausgegeben. In vielen Bundesländern sind sie ausdrücklich zur Anwendung empfohlen. In Niedersachsen werden sie von Verwaltungsgerichten als „aktuelle und spezifische wissenschaftliche Erkenntnisquelle“ angesehen, die den Stand der Technik wiedergibt. Auch die Niedersächsische Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr bezeichnet sie 2013 in ihrem „Leitfaden Radverkehr“ (PDF 7.9 Mb) als „aktuelles technisches Regelwerk“.
Die RASt 06 unterscheiden zwischen einem geführten und einem individuellen Entwurfsvorgang. Der geführte Entwurfsvorgang führt zu einer „empfohlenen Lösung für eine typische Entwurfsituation“, in diesem Fall für eine sog. „Örtliche Geschäftsstraße“. Sie setzt eine Straßenraumbreite von mindestens 20,5 m voraus, ist also für die mittlere Bahnhofstraße (engste Stelle 12,24 m!) leider ungeeignet.
Sind bei Verkehrsstärken von 400 Kfz/h bis 1000 Kfz/h Schutzstreifen vorgesehen, wird der Gehweg nicht für Radfahrer frei gegeben.
…
Dabei erfolgt die Freigabe unter der Bedingung, dass dies unter Berücksichtigung der Bevorrechtigung der Fußgänger vertretbar ist.
Die Gehwegbreiten werden in örtlichen Geschäftsstraßen mit 4,00 m, bei anliegendem Radweg mit 3,00 m, in Hauptgeschäftsstraßen mit 5,00 m, bei anliegendem Radweg mit 4,00 m bemessen.
Für Gehwege gehen bereits die ERA 2010 von einer erforderlichen Mindestbreite von 2,30 m aus, verweisen für besondere Situationen aber zusätzlich auf die Vorgaben der RASt 06. Danach wiederum sind die Mindestmaße der Gehwegbreiten in Geschäftsstraßen zu erhöhen, in der mittleren Bahnhofstraße wären das 4,00 m. Dem gegenüber steht eine wünschenswerte Fahrbahnbreite von 6,50 m ohne bzw. 7,50 m mit Schutzstreifen.
Das Problem in Kürze
- Die gegenwärtige Verkehrsführung auf der mittleren Bahnhofstraße ist um das Jahr 2000 geplant worden und entspricht den heutigen Anforderungen nicht mehr. Die empfohlene Lösung (RASt 06) für eine örtliche Geschäftsstraße setzt eine Straßenraumbreite von 20,50 m voraus, weit mehr als hier verfügbar. Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen (ERA 2010 und RASt 06) müsste eine akzeptable Minimallösung heute mindestens 2,30 m Gehweg + 7,50 m Fahrbahn inkl. Schutzstreifen bds. + 2,30 m Gehweg vorsehen. Das wäre auch mit der minimal verfügbaren Straßenraumbreite von 12,24 m knapp realisierbar.
- Der heutige Verkehr mit mehr als 800 Kfz in der Spitzenstunde mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erfordert entweder getrennte Radwege oder Schutzstreifen auf der Fahrbahn oder die Freigabe der Gehwege für Rad Fahrende (ERA 2010, VwV-StVO per Verweis).
- Dieser Ist-Zustand wird von vielen Verkehrsteilnehmern negativ wahrgenommen und seit Jahren öffentlich sehr kritisch bewertet. Defizite aus der Fußgänger- und Radfahrersicht stehen dabei in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund. Viele Bürger und auch der ADFC sehen in der Bahnhofstraße einen oder den Hauptkritikpunkt an der Radverkehrsführung in Osterholz-Scharmbeck.
Lösungsansätze
Neugestaltung
Den heutigen Ansprüchen an eine mit 50 km/h befahrbare und trotzdem für Radfahrer und Fußgänger hinreichend sichere örtliche Geschäftsstraße würde nur eine völlige Neugestaltung von Fahrbahn und Seitenräumen genügen. Die aktuellen Regelwerke ERA 2010 und RASt 06 verlangen für eine gerade noch akzeptable Minimallösung Gehwegbreiten von jeweils 2,30 m und eine Fahrbahnbreite von 7,50 m. Parkbuchten wären dann ohne Zukauf privaten Grundbesitzes nicht oder nur stark eingeschränkt realisierbar.
Für den Radverkehr würden Schutzstreifen auf beiden Seiten angelegt, was bei dieser Verkehrsdichte gerade noch zulässig wäre, zumal der Querschnitt für abgesetzte Radwege nicht ausreicht. Wenn man die Kosten des letzten Umbaus im Jahr 2003 zu Grunde legt, dürfte diese Lösung mit mindestens ebenfalls € 800.000.- zu Buche schlagen.
Schutzstreifen
Schutzstreifen als vergleichsweise kostengünstige und platzsparende Führungsform für den Radverkehr werden auch auf Grund der geringen finanziellen Handlungsspielräume der Straßenbaulastträger immer häufiger installiert. Sie sind ein Teil der Fahrbahn
und dürfen von Autofahrern nur ausnahmsweise befahren werden. Sie verbessern das Sicherheitsgefühl für Radfahrer auf der Fahrbahn und tragen nachweislich dazu bei, verbotenes Gehwegradeln zu unterbinden. Im gegenwärtigen baulichen Zustand der Straße sind beidseitige Schutzstreifen nicht zulässig. Selbst das Mindestmaß von 1,25 m + 0,25 m (Sicherheitsabstand zu Längsparkständen) würde die Breite der übrigen Fahrbahn auf dann 3,20 m einengen. Als notwendig werden 4,50 m erachtet, um die Begegnung zweier Pkw zu ermöglichen. Ein geringere Breite der Restfahrbahn würde die Schutzwirkung der Streifen wegen dann zu häufigen Überfahrens mindestens teilweise aufheben.
Möglich wäre die Anlage eines einseitigen Schutzstreifens mit einer Breite von 1,45 m + 0,25 m (Sicherheitsabstand) auf der Südseite. Die Restfahrbahnbreite läge dann genau bei den geforderten 4,50 m. Das würde zwar den bergauf Rad Fahrenden einen Schutzraum schaffen, der angesichts der größeren Geschwindigkeitsdifferenz zum Autoverkehr und des erhöhten Platzbedarfs durch Pendelbewegungen vorteilhaft wäre. In Gegenrichtung abwärts Radelnde müssten aber weiterhin die unmarkierte Restfahrbahn mit den Kfz teilen, so dass diese (Teil-)Lösung den Erfordernissen nicht gerecht wird. Außerdem wäre ohne zusätzliche Maßnahmen wie Verkehrserziehung, Geschwindigkeitsbegrenzung oder strikteres Sanktionieren zumindest in dieser Fahrtrichtung kein Effekt auf das verbotene Gehwegradeln zu erwarten. Radfahrer Richtung Westen würden den dort fehlenden Schutzstreifen womöglich als Signal interpretieren, die Fahrbahn gerade nicht zu benutzen.
Tempo 30
Die Vorschriften der StVO zum Tempo 30 sind komplex und abschnittsweise schwer verständlich. Zunächst einmal muss unterschieden werden zwischen
- streckenbezogenem Tempo 30 nach StVO § 45 Abs. 1 Satz 1 und
- Tempo 30-Zonen nach StVO § 45 Abs. 1c.
Das häufig gehörte „Totschlagargument“, Tempo 30 sei hier wegen der straßenrechtlichen Widmung als Kreisstraße nicht zulässig, zeugt von allzu bereitwillig oberflächlicher Betrachtung. Es bezieht sich nämlich nur auf Tempo 30-Zonen nach § 45 Abs. 1c.
Streckenbezogen Tempo 30 nach StVO § 45 Abs. 1 Satz 1
Da dieser Abschnitt der Bahnhofstraße im aktuellen baulichen Zustand beträchtliche Mängel an der Verkehrssicherheit für Fußgänger und Radfahrer aufweist, muss die Straßenverkehrsbehörde hier meines Erachtens „aus Gründen der Sicherheit des Verkehrs“ ein Geschwindigkeitsbegrenzung anordnen, wie es § 45 Abs. 1 vorsieht.
Und zwar eine, die den Vorgaben der ERA 2010 entspricht, auf die wiederum auch die VwV-StVO verweist. Und das sind nun mal genau 30 km/h, selbst damit werden die einschlägigen Vorgaben nur knapp erreicht.
Bei der Abwägung eines solchen Eingriffs hilft auch ein Blick in die VwV-StVO selbst (s. Textkasten), die der Flüssigkeit des Verkehrs zwar große Bedeutung beimisst, die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer aber ausdrücklich höher bewertet.
Ebenfalls weiter hilft ein Blick in den „Leitfaden Radverkehr“ der Niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr aus dem November 2013. Dieser Leitfaden (Download PDF 7.9 Mb) stellt die Anforderungen an Radverkehrsführungen mit und ohne Benutzungspflicht für Bundes-, Landes- und Kreisstraßen in Niedersachsen zusammen. In der Anlage werden 10 Praxisbeispiele genannt, eines davon eine Kreisstraße mit bereits erfolgter Tempo 30-Anordnung und eines sogar eine Landesstraße (Ortsdurchfahrt Winsen/Aller) mit dem Schlusssatz „Eine spätere Anordnung von Tempo 30 wäre zu begrüßen.“
Tempo 30-Zonen nach StVO § 45 Abs. 1c
(1) Die öffentlichen Straßen werden nach ihrer Verkehrsbedeutung in folgende Straßengruppen eingeteilt:
1. Landesstraßen; …;
2. Kreisstraßen; das sind Straßen, die überwiegend dem Verkehr zwischen benachbarten Landkreisen und kreisfreien Städten, dem überörtlichen Verkehr innerhalb eines Landkreises oder dem unentbehrlichen Anschluß von Gemeinden oder räumlich getrennten Ortsteilen an überörtliche Verkehrswege dienen oder zu dienen bestimmt sind;
3. Gemeindestraßen; das sind Straßen, die überwiegend dem Verkehr innerhalb einer Gemeinde oder zwischen benachbarten Gemeinden dienen oder zu dienen bestimmt sind (§ 47);
4. sonstige öffentliche Straßen (§ 53).
Maßgeblich für diese Klassifizierung von Straßen ist in Niedersachsen das NStrG. Bezogen auf den LK Osterholz soll eine Kreisstraße danach überwiegend dem Verkehr zwischen dem LK Osterholz und benachbarten Landkreisen oder Bremen dienen, dem überörtlichen Verkehr innerhalb des LK Osterholz oder dem unentbehrlichen Anschluss von Gemeinden oder Ortsteilen an andere Kreis-, Landes- oder Bundesstraßen.
Schaut man sich das Straßennetz in und um Osterholz-Scharmbeck herum an, dann erfüllt die mittlere Bahnhofstraße als Teil der K45 diese Kriterien für eine Kreisstraße nicht mehr. Verlässlich wäre das zwar nur zu beantworten, indem man wenigstens stichprobenartig die heutigen Straßenbenutzer nach Start und Ziel ihres Weges befragen würde. Angesichts eines 20 %igen Rad- und Fußgänger-Verkehrsanteisl müssten aber von den Autofahrern mindestens 64 % nach Bremen oder in einen anderen Landkreis oder „überörtlich im Landkreis“ unterwegs sein, was ich stark bezweifeln möchte.
Resümee
Enge Ortsdurchfahrten sind seit Jahrzehnten ein Problem für Stadt- und Verkehrsplaner. So auch hier in der Bahnhofstraße, wo die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern nach heutigen Maßstäben unzureichend berücksichtigt ist. Das Problem ist für Osterholz-Scharmbeck von großer Bedeutung, weil es die Hauptverbindung sowohl vom Bahnhof als auch vom Stadtteil Osterholz in die Innenstadt betrifft und in den letzten Jahren immer wieder in der Öffentlichkeit diskutiert wird.
Nach gründlicher Analyse der heutigen Gegebenheiten und der einschlägigen Regelwerke gibt es meiner Ansicht nach nur zwei sinnvolle Lösungsansätze:
- Am zweckmäßigsten wäre eine völlige Neugestaltung des Straßenraumes, die Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern höchstmögliche Sicherheit bietet und den Verkehr so flüssig wie eben möglich macht. Ich fürchte, dass für einen solchen Umbau deutlich mehr als € 1 Mio. zu veranschlagen sind.
- Ohne grundlegende Umbaumaßnahmen bzw. bis zur Umsetzung einer solchen Planung ist die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern nur durch eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Tempo 30 km/h für den Autoverkehr zu gewährleisten. Diese kann und sollte streckenbezogen nach StVO § 45 Abs. 1 Satz 1 angeordnet werden, ersatzweise nach Umwidmung zu einer Gemeindestraße als sog. Tempo 30-Zone nach StVO § 45 Abs. 1c.