Mehrfach schon wurde behauptet, vielen älteren Schweden würde in der Corona-Pandemie intensivmedizinische Behandlung vorenthalten. Anfang Mai haben Christian Baars, Elena Kuch und Oda Lambrecht für den NDR zu diesem Thema recherchiert und von offizieller schwedischer Seite sehr strikte Dementi erhalten.(1) Es gäbe zwar Notfallpläne, Patienten im Alter von über 80 Jahren oder mit bestimmten Vorerkrankungen im Falle einer System-Überlastung nicht intensivmedizinisch zu betreuen, diese seien aber wegen ausreichender Intensivkapazitäten nicht angewandt worden. Der im Vergleich auffallend geringe Anteil älterer Intensivpatienten in Schweden sei möglicherweise auf häufiger geführte Diskussionen über Ethik und Sinnlosigkeit zurückzuführen, die dort vor Einleitung einer Intensivbehandlung geführt würden. Diese Aussage des Vorsitzenden des schwedischen Intensivregisters Johnny Hillgren interessierte mich brennend, standen diese ethischen Fragen doch auch in Deutschland in vermutlich allen unseren Kliniken viele Wochen im Fokus der Diskussion.
Ich wollte es also möglichst genau wissen: Was machen die schwedischen Kollegen auf ihren Intensivstationen anders und auf welcher Grundlage treffen sie ihre Entscheidungen? Ich schaute mir im ersten Schritt die Altersverteilung in der Swedish Intensive Care Registry (SIR) an, die solche Analysen in übrigens weltweit einmaliger Transparenz gestattet. Betrachtet man dort Monat für Monat die Patientenzahlen in den Altersgruppen, kommt man allerdings zu einem ernüchternden Ergebnis:
Danach nämlich haben sich die Ansichten der schwedischen Kollegen über Ethik und Sinnhaftigkeit der Intensivmedizin bei Älteren fast schlagartig geändert: Bis Februar 2020 waren sie den unseren sehr ähnlich, der Anteil >80-Jähriger lag sehr stabil bei gut 10 %. Erst seit die Corona-Pandemie europäischen Boden erreicht hat, werden deutlich weniger ältere Menschen auf schwedischen Intensivstationen aufgenommen.
Waren in den Vorjahren im gleichen Zeitraum (1. April – 16. Mai) knapp 40 % der Intensivpatienten mindestens 70 Jahre alt, lag ihr Anteil 2020 nur noch bei 28 %. Noch deutlicher der Rückgang bei den ≥80-Jährigen: 6.5 % statt 12 % der Intensivpatienten zählten 2020 noch zu dieser Altersgruppe.
Und es liegt keineswegs an einem anderen Patientenklientel zu Zeiten der Corona-Pandemie: Beschränkt man die Statistik auf Patienten mit infektiösen und respiratorischen Erkrankungen, so fällt der Rückgang bei den über 70- und über 80-Jährigen sogar noch deutlicher aus. Und natürlich lag es auch nicht an einer plötzlich geringeren Anzahl Schwerkranker im höheren Alter: Wir alle wissen, dass gerade ihr Anteil unter den schwedischen Covid-Toten sehr hoch ist.
Der schwedische Weg und die Sache mit den Corona-Toten
Schweden ist in der Corona-Pandemie einen besonderen und weltweit vielbeachteten Weg gegangen. Je nach Standpunkt des Betrachters ist dieser „schwedische Weg“ vielfach gelobt und ebenso häufig kritisiert worden. Befürworter betonen die vergleichsweise geringen Beschränkungen der Freizügigkeit, den hohen Wert der Freiwilligkeit, den geringeren wirtschaftlichen Schaden und den mittelfristig besseren Schutz vor einer zweiten Infektionswelle. Kritiker haben hauptsächlich die im Vergleich zu den Nachbarländern und Deutschland deutlich höhere Zahl der schwedischen Covid-Toten im Blick:
In Schweden sind bis zum 22. Mai 3.871 Menschen mit dem Corona-Virus verstorben, das sind 380 pro 1 Mio. Einwohner. Damit liegt Schweden unter halbwegs vergleichbaren Ländern hinter Belgien (804/1 Mio. Einw.), Spanien (598), Italien (538), Großbritannien (542) und Frankreich (421) an sechster Stelle der Covid-19-Sterblichkeit und weit vor Deutschland (99) oder Österreich (72).(2) Das wird seit Wochen berichtet und ist auch der wesentliche Kritikpunkt am schwedischen Weg im In- und Ausland.
Aber: Völlig zurecht weisen die schwedischen Staatsepidemiologen und Befürworter des schwedischen Weges darauf hin, dass höhere Infektions- und damit auch Sterberaten in der Anfangsphase unausweichlich sind und bewusst in Kauf genommen werden, wenn Kontaktbeschränkungen lockerer gehandhabt werden. Die Bevölkerung wird zwar schneller durchseucht als in Ländern mit Lockdown, ist aber auch früher durch damit. Am Ende wäre in etwa die gleiche Mortalität zu erwarten, so der postulierte Idealfall. Entscheidend dabei aber ist, das haben Befürworter und Gegner gleichermaßen konstatiert, dass das Gesundheitswesen und insbesondere die Intensiv- und Beatmungskapazitäten zu keinem Zeitpunkt überlastet werden. Sonst nämlich kommt es unweigerlich zu vermeidbaren Todesfällen wie beispielsweise in der Lombardei, wo es vorübergehend weniger Beatmungsgeräte als Patienten mit schwerem Lungenversagen gab.
Die Frage des „Blutzolls“ der jeweiligen Strategie hat also zwei Facetten: Einerseits die langfristige Sterblichkeit über die gesamte Zeit der Pandemie, die wohl erst im nächsten Jahr verglichen werden darf. Und andererseits die Zahl eigentlich unnötiger Todesfälle, die lediglich fehlenden Intensivkapazitäten geschuldet ist. Insofern ist der schlichte Vergleich der Todesfälle pro 1 Mio. Einwohner nicht aussagekäftig, solange die Beanspruchung der Intensivstationen nicht berücksichtigt wird.
Schwedische Intensivstationen in der Corona-Pandemie
Die Erfahrungen aus China und später Norditalien haben auch in Schweden dazu geführt, sich frühzeitig auf die medizinischen Kapazitäten und insbesondere die Möglichkeiten der Intensivbehandlung zu konzentrieren. Vor der Corona-Pandemie verfügte Schweden über etwa 500 Betten auf Intensivstationen, somit 48 Betten/1 Mio. Einw. (zum Vergleich: Deutschland ca. 333, Österreich ca. 289, USA ca. 258 und Italien ca. 84/1 Mio. Einw.). Diese Zahl wurde in Schweden Anfang April auf 800 und am 13. April auf 1039 Betten aufgestockt, dann also 101 Betten/1 Mio. Einw.. Sie waren Mitte April zu 80 % belegt (3).
Die relevanten Kennzahlen werden in Schweden in international unvergleichlich transparenter Weise offen kommuniziert. Wie erwartet kam es ohne harten Lockdown zu einem länger anhaltenden Anstieg der Zahlen auf den schwedischen Intensivstationen, so dass ab Anfang April Befürchtungen laut wurden, ob diesem Trend dauerhaft standzuhalten wäre.
Dann aber, bis vor wenigen Tagen konnte ich es mir nicht recht erklären, blieb die Zahl der Covid-19-Patienten auf schwedischen Intensivstationen von Anfang April bis Anfang Mai erstaunlich stabil. Diese Entwicklung mit seit Anfang Mai sogar leicht sinkenden Zahlen von Neuzugängen wurde auch mehrmals als Grundlage für die strategischen Entscheidungen von Regierung und Folkhälsomyndigheten (öffentliche Gesundheitsbehörde) genannt, wenn es um die Beibehaltung des Schwedischen Wegs ging.
Ich fand es schon vor 2 Wochen sehr bemerkenswert, wie hart sie da am Wind gesegelt sind: Länger als drei Wochen lang hatten sie mehr Covid-19-Patienten zu versorgen, als noch am Jahresanfang überhaupt an Kapazitäten zur Verfügung stand. Auf unsere Verhältnisse hochgerechnet hätten wir in Deutschland mit 28.000 gleichzeitigen Covid-Intensivpatienten klarkommen müssen. Wohlwissend, dass die pressewirksame „Aufstockung“ der Intensiv- und Beatmungskapazitäten mit äußerster Vorsicht zu genießen ist (wo soll auf einmal das notwendige Fachpersonal herkommen, wenn schon vorher regelmäßig Intensivbetten wegen Personalmangel abgemeldet waren?), bin ich sicher, dass es dann an vielen Orten schwerwiegende Probleme gegeben hätte. Zumal 10-20 % gerade des Fachpersonals in einer solchen Situation selbst erkrankt.
Und hat es jetzt gereicht?
Am 24. April berichtete die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter, in der Stockholmer Uniklinik Karolinska könnten nicht mehr alle schwerkranken Patienten intensivmedizinisch behandelt oder beatmet werden. Die Zeitung zitiert einen namentlich nicht genannten Arzt: „Wir erleben, dass die Selektionskriterien für den Katastrophenfall bereits jetzt Anwendung finden.“
Und Dr. Lars Falk, Leiter der ECMO-Intensivstation der Karolinska äußerte sich am 8. Mai in einem Interview mit AFP so: „Wir sind immer voll besetzt. … Die Plätze werden immer knapper. Wir müssen also wirklich die richtigen Patienten auswählen und bei dieser Selektion müssen wir natürlich auch Menschen die ECMO-Behandlung entziehen und das sind wirklich schwierige Entscheidungen, die zu treffen sind.“
Björn Persson, Geschäftsführer der Karolinska-Intensivstation, bestritt allerdings, dass Patienten nach härteren Kriterien priorisiert würden. (4)
Dem NDR fiel aber auf:
„In Schweden ist die Zahl der Corona-Patienten, die mindestens 80 Jahre alt sind und intensivmedizinisch behandelt werden, sehr niedrig. Bis Anfang Mai waren es 50 von mehr als 5200 nachweislich Infizierten in dieser Altersgruppe – also weniger als ein Prozent. In anderen Altersgruppen wurden deutlich mehr Corona-Patienten auf einer Intensivstation behandelt: Mehr als zehn Prozent der Infizierten im Alter von 70 bis 79 und mehr als 16 Prozent bei den 60- bis 69-Jährigen.“
Auf Anfrage des NDR begründete das der Vorsitzende des schwedischen Intensivregisters, Johnny Hillgren, so:
„There are quite big differences in what is meant by intensive care in different countries. […] We guess that this means that either also less severely ill patients are treated in intensive care units in Germany or patients which we in Sweden expect to have too small chances to survive to a meaningful life are treated in German intensive care units. […] There may be more ethical discussions and more discussions about futility before a patient is admitted to intensive care in Sweden.“
Schwedischer Weg auf Kosten der Alten
Die eingangs dargestellte Altersstatistik der letzten Monate macht aber deutlich, dass dies nicht die Gründe sein können. Die gemutmaßten ethischen Diskussionen haben ganz offensichtlich erst angesichts zu knapper Ressourcen begonnen und das ist in meine Augen schlichtweg „vorauseilende Triage“. Völlig unklar bleiben dabei die Kriterien dieser Auswahlentscheidungen, die in ihrer Summe eindeutig zu einer Therapiebeschränkung bei älteren Menschen geführt haben.
Anmerkung zum Schluss
Intensivmedizin im hohen Lebensalter ist nicht notwendigerweise „gut und richtig“, sondern ein komplexes Thema mit vielen Facetten. Grundsätzlich aber ist sie eine Errungenschaft, sofern der kranke Mensch in seiner ganzen Persönlichkeit betrachtet und ethische Prinzipien verantwortungsvoll geachtet werden. Intensivmedizin kann unter den richtigen Voraussetzungen auch hochbetagten kritisch kranken Patienten die Chance geben, noch einmal in ein für sie zufriedenstellendes Leben zurückzukehren. In der Region Lombardei war das Durchschnittsalter der Covid-Intensivpatienten genauso hoch wie das aller Covid-Krankenhauspatienten. Knapp 50 % der über 80-jährigen Intensivpatienten überlebten dort die stationäre Behandlung, das entspricht ziemlich genau der Erfolgsquote bei Patienten mit entzündlich verursachtem Lungenversagen ohne Corona-Virus.
Vielen Dank für die Antwort Herr Heuser. Auch ich bin froh, in einem Land zu leben, das frühzeitig und konsequent gehandelt hat.
Die Strategie „Herdenimmunität“ ist geplanter Wahnsinn. Hier in Europa gibt es kein Land, welches die medizinischen Kapazitäten besitzt, das ohne Triage zu überstehen. Wir hatten Norditalien und NYC und konnten sehen, was das bedeutet.
Viele Grüße und bleiben Sie gesund
Udo H.
Hallo Herr Heuser,
auch ich bedanke mich für die viele Arbeit und dem Artikel zu diesem Thema.
Bei den vielen Befürwortern des „schwedischen Modells“ werden diese Fakten leider zu gerne unter den Teppich gekehrt.
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre das eine aktuelle Einschätzung von Ihnen. So mach ich mal im alleine Internet auf den Weg…
Viele Grüße
Udo H.
Dankeschön, Herr Hämel!
Soweit ich das sehe, hat sich substantiell nichts geändert. Schweden ist, was die Intensivstationen betrifft, „über den Berg“, findet aber (noch?) nicht zu seiner früheren Betreuungsintensität älterer Patienten zurück.
Was den „schwedischen Weg“ insgesamt betrifft, hat er sich zumindest in der dort begangenen Form auch nach Einschätzung der „Staatsepidemiologen“ nicht bewährt. Wir alle haben aber in der Zwischenzeit aber auch sehr viel gelernt, so sehe ich das jedenfalls: der wirtschaftliche Schaden scheint nur zum kleineren Teil durch den Lockdown und zum viel größeren Teil durch globalen Verflechtungen und Konsumverhalten beeinflusst, Schweden scheint kaum besser wegzukommen als beispielsweise D. Und die im Hintergrund erhofften Vorteile einer Herdenimmunität stehen auf wackligen Füßen, wenn diese womöglich kürzeren Bestand hat als angenommen.
Was allerdings immer noch keiner auch nur halbwegs belastbar vorhersehen kann, ist die Entwicklung im Herbst und Winter… sowohl in Schweden als auch in Deutschland. Insofern ist es für eine abschließende Bewertung sicher viel zu früh, wobei ich persönlich offen gesagt sehr glücklich bin mit dem bisherigen „deutschen Weg“.
Viele Grüße!
Herzlichen Dank für diese ausführliche Ausarbeitung. Schwedens Gesellschaft bezahlt einen hohen Preis für die Politik der Freiwilligkeit. Den höchsten gar: das Recht auf Leben.
Danke, dass Sie auch den ältesten Menschen unserer Gesellschaft ein lebenswertes Leben zusprechen, ein Pfand, das die Politik nicht leichtfertig einsetzen sollte.
Danke für Ihr Feedback! Ja, mittlerweile sehe ich das leider bezüglich des „schwedischen Weges“ auch so.