Heinsberg-Studie

Die „Heinsberg-Studie“ ist raus. Sechs Wochen nach dem dortigen Corona-Ausbruch haben der Bonner Virologe Streeck und sein Forscherteam in Gangelt (Landkreis Heinsberg) 600 zufällig aus dem Melderegister ausgewählte Einwohner angeschrieben und gemeinsam mit allen in deren Haushalt lebenden Personen zu einer Studie eingeladen, um Daten über die Infektionshäufigkeit und die Sterblichkeit von SARS-CoV-2 zu erhalten.

Von den 1.007 Rückmeldungen aus 405 Haushalten konnte der Infektionsstatus bei 919 Personen anhand von Abstrichen und Blutuntersuchungen auf Antikörper ermittelt werden. Die Daten wurden in der Woche vom 30. März bis zum 6. April erhoben und am 4. Mai 2020 vorab veröffentlicht: Streeck H et al.: Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event. In meinen Augen sind die Ergebnisse in mehrerlei Hinsicht sehr interessant:

Die für mich wichtigsten Ergebnisse

Anhand von 33 positiven Abstrichen während der Studie, 22 berichtet positiven Abstrichen vor der Studie und der Antikörpertests wurde bei insgesamt 138/919 Personen (15.5 %) eine aktuelle oder zurückliegende Corona-Infektion diagnostiziert.

Hochgerechnet wären das 1.956 Infizierte unter den 12.597 Einwohner Gangelts, von denen zu diesem Zeitpunkt sieben (Durchschnittsalter 81 Jahre) mit SARS-CoV-2-Nachweis verstorben waren. Daraus errechnet sich eine Infection Fatality Rate (IFR) von 0,36 %.

Symptome wurden von Infizierten zwar 2,2-mal häufiger angegeben als von Nicht-Infizierten, immerhin 22,2 % der Infizierten waren aber völlig symptomlos. Der Unterschied zwischen Infizierten und Nicht-Infizierten war am deutlichsten bei Geruchsverlust (19-fach häufiger), Geschmacksverlust (17-fach), Fieber (5-fach), Schwitzen und Schüttelfrost (3,7-fach) und Schwäche (3-fach).

Die Teilnahme an einer der Karnevalssitzungen war mit einer erhöhten Infektionsrate (21,3 % vs. 9,5 %, p<0.001) und bei Infizierten mit einer 1,6-fach höheren Anzahl von Symptomen (p=0.007) verbunden. Infizierte Teilnehmer einer Sitzung waren nur zu 16 % symptomfrei, infizierte Nicht-Teilnehmer hingegen zu 36 %. Das sekundäre Infektionsrisiko für Studienteilnehmer im gleichen Haushalt erhöhte sich von 15,5 % auf 43,6 % bei 2-Personen-Haushalten, auf 35,5 % bei 3-Personen-Haushalten und auf 18,3 % bei 4-Personen-Haushalten (p<0.001).

Was sagt uns das?

Mitten in der aktuell von vielen Seiten sehr emotional geführten „Öffnungs-Debatte“ ist es schwierig, die Ergebnisse der Heinsberg-Studie mit der gebotenen Vernunft zu interpretieren. Aufgrund kleiner Zahlen besteht natürlich eine gewisse statistische Unsicherheit und die Infektionsrate wird für andere Regionen mit Kontaktbeschränkungen nicht repräsentativ sein, weil das „super-spreading event“ in Gestalt der Kappensitzung vor Beginn wesentlicher Distanzierungsmaßnahmen stattfand.

Hochrechnung Infektionsrate
So einfach ist es sicher nicht: Mutmaßliche Infektionsrate unter Annahme einer IFR von 0.36 (eigene Berechnung)
Insofern kann man die Ergebnisse nicht einfach kritiklos auf andere Städte, Gegenden oder Staaten anwenden. Schon der Versuch einer solchen Hochrechnung (s. Tabelle) macht deutlich, dass die Infektionsraten bei sehr kleinen oder sehr großen Zahlen an Todesopfern nicht plausibel sind. Das betrifft sowohl die hochgerechnete Infektionsrate von 0 % für den Landkreis Osterholz als auch die von 60 % für New York City.

Aber: die Heinsberg-Studie liefert erste eindeutige Belege für eine hohe Dunkelziffer von Infizierten. In Gangelt betrug sie das 4-fache der bis dato gemeldeten Fälle (15,5 statt 3,1 %) und bei -wie schon gesagt: fehlerbehafteten- Schätzungen anhand der IFR könnte sie deutschlandweit beim 10-fachen der gemeldeten Fälle liegen (1.9 Mio statt 170.000 Infizierte). Die Größenordnung jetzt besser zu kennen, hilft definitiv bei der Modellierung zukünftiger Verläufe.

Außerdem liefert die Studie wertvolle Indizien für die Annahme, dass die Viruslast bei der Infektion Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung hat. Das ist derzeit die plausibelste Erklärung für die Tatsache, dass Infektionen der Kappensitzungs-Teilnehmer signifikant häufiger und signifikant mehr Symptome zeigten. Das hilft in meinen Augen sehr, die wirklich wesentlichen Elemente zur Infektionsminimierung zu identifizieren. Oder anders gesagt: die weniger oder gar nicht wichtigen Elemente dann auch zügig zu den Akten zu legen.

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