Die bevorstehende Impfung gegen Covid-19 wird -zumindest bei den ersten in Deutschland verfügbaren Impfstoffen- ausschließlich intramuskulär (i. m.) erfolgen, in aller Regel in den Deltamuskel des weniger benutzten Oberarmes. Derartige i.m.-Injektionen galten bislang vielen Ärzten und Patienten als unmöglich oder kontraindiziert, wenn blutverdünnende Medikamente (Antikoagulantien) genommen werden. Update 17.12.: Ich bin froh, dass die heute vorab online publizierte STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung vom 14.01.2021 dazu klar Stellung nimmt:
Die Impfung ist strikt intramuskulär (i. m.) und keinesfalls intradermal, subkutan oder intravaskulär zu verabreichen. Bei PatientInnen unter Antikoagulation soll die Impfung ebenfalls i. m. mit einer sehr feinen Injektionskanüle und einer anschließenden festen Komprimierung der Einstichstelle über mindestens 2 Minuten erfolgen.
Antikoagulation hätte sonst bei der Corona-Impfkampagne zum Problem werden können, weil knapp 10 % der >80-jährigen Impflinge höchster Priorität unter einer solchen Antikoagulation stehen dürften.
Rein medizinisch ist das Problem mittlerweile weitgehend gelöst: vorhandene Daten hauptsächlich zur Grippeimpfung zeigen, dass i.m.-Injektionen auch unter Antikoagulantien nach Risiko-Nutzen-Abwägung durchaus sicher sind. Im Schadensfall jedoch ist durchaus von Belang, dass i.m-Injektionen in den Fachinformationen von Phenprocoumon (z. B. Marcumar®) ausdrücklich als kontraindiziert bezeichnet werden. Für die neuen oralen Antikoagulantien (Eliquis®, Lixiana®, Pradaxa® und Xarelto®) finden sich zwar keine entsprechenden Angaben, bei Eingriffen mit Blutungsgefahr werden aber durchweg Vorsichtsmaßnahmen empfohlen.
Als Nicht-Jurist hatte ich befürchtet, dass die Staatshaftung nach § 60 IfSG bei evtl. Blutungskomplikationen nicht zuverlässig greifen würde, wenn die althergebrachten und eher schwammig formulierten Empfehlungen von RKI oder PEI (Paul-Ehrlich-Institut) und GTH (Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung) beibehalten worden wären:
Sollte keine Zulassung für eine s.c.-Gabe vorliegen, kann die Impfung ggf. auch intramuskulär (i.m.) mit einer sehr feinen Injektionskanüle und der anschließenden festen Komprimierung der Einstichstelle über mindestens 2 Minuten erfolgen, wenn eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung zugunsten einer Impfung ausfällt.(RKI)
Eine allgemeine Empfehlung entgegen der expliziten Warnhinweise aus der Fachinformation von Marcumar kann … jedoch noch nicht gegeben werden. … Vor einer i.m. Gabe sollte der INR-Wert nicht >3,0 liegen und keine Kombination mit Plättchenaggregationshemmern eingenommen werden. Eine generelle Empfehlung, wie im Einzelfall zu handeln ist, kann daher derzeit nicht gegeben werden. Die ideale Vorgehensweise muss individuell in einem Gespräch zwischen Arzt und Patient gefunden werden.(PEI/GTH)
Impfärztinnne bzw. Impfärzte wären dann verpflichtet, am Tag der Impfung im Rahmen des Impfgesprächs eine „individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung“ vorzunehmen bzw. die „ideale Vorgehensweise“ festzulegen. Das ist aber völlig wirklichkeitsfremd, weil dazu die genaue Indikation für die Antikoagulation und oftmals aktuelle Laborwerte bekannt sein müssten. Im Zweifel müssen Klappenprothesen-Typen und Scores für das Schlaganfall- oder Thrombose-Risiko ermittelt und berücksichtigt werden. In meinen Augen unlösbar, zumal für das sog. Impfgespräch derzeit 3-5 Minuten veranschlagt werden.
Meine Empfehlung
Auf Grundlage der u.g. Daten und bisherigen Empfehlungen sehe ich das so:
Menschen unter Antikoagulantien sollten bei der Anmeldung zur Impfung aufgefordert werden, ihre Hausärztin bzw. ihren Hausarzt rechtzeitig vom Impftermin zu benachrichtigen. Diese/r sollte dann entscheiden, wie zu verfahren ist. Als Anhaltspunkte können gelten:
- Bei Marcumar/Phenprocoumon/Sintrom/Warfarin in der Regel Impfung unter fortlaufender Therapie, INR möglichst im unteren, aber zuverlässig nicht oberhalb des Zielbereichs. Ausnahme: bei geringem Schlaganfall-/Thromboserisiko (z. B. CHADS-VASc-Score <3) Marcumar-Pause 5 Tage vor der Impfung.
- Bei Eliquis/Lixiana/Pradaxa/Xarelto in der Regel 24 Std. Pause vor der Impfung und Wiederbeginn mit der nächsten Medikamenten-Dosis zur üblichen Zeit, sofern kein Hämatom an der Injektionsstelle bemerkt wird. Ausnahme: bei sehr hohem Schlaganfall-/Thromboserisiko (z.B. Thrombose in den letzten 6 Wochen oder CHADS-VASc-Score >8) Impfung unter fortlaufender Therapie
- Unter ASS/Clopidogrel/Prasugrel/Brilique (keine Antikoagulantien, aber der Vollständigkeit halber) in der Regel Impfung unter fortlaufender Therapie. Ausnahme: Bei reiner Primärprophylaxe 7 Tage Pause und bei dualer Plättchenhemmung (gleichzeitige Einnahme von mehr als einem dieser Präparate) individuelle Risikoabwägung z. B. via DAPT-Score
Anhang
A Fachinformationen ausgewählter Antikoagulantien
Fachinformation Marcumar
Intramuskuläre Injektionen … dürfen unter der Behandlung mit Marcumar aufgrund der Gefahr massiver Blutungen nicht durchgeführt werden. (FI Marcumar)
Fachinformation Eliquis
Eliquis sollte mindestens 24 Stunden vor geplanten Operationen oder invasiven Eingriffen mit niedrigem Blutungsrisiko abgesetzt werden. Dies schließt Eingriffe ein, für die jegliche mögliche Blutung als minimal eingeschätzt wird, deren Lokalisation unkritisch ist oder die leicht zu kontrollieren ist.
Wenn die Operation bzw. der invasive Eingriff nicht verschoben werden kann, sollten unter Berücksichtigung des Blutungsrisikos entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. Das Blutungsrisiko sollte gegen die Dringlichkeit des Eingriffes abgewogen werden.
Die Therapie mit Eliquis sollte, unter Berücksichtigung der klinischen Situation und ausreichender Hämostase, nach dem invasiven Eingriff bzw. der Operation so bald wie möglich wieder aufgenommen werden. (FI Eliquis)
Fachinformation Lixiana
Wenn die Antikoagulation zur Reduktion des Blutungsrisikos bei einem chirurgischen oder sonstigen Eingriff vorübergehend abgesetzt werden muss, dann ist Edoxaban so bald wie möglich und vorzugsweise mindestens 24 Stunden vor dem Eingriff abzusetzen. Bei der Entscheidung, ob ein Eingriff bis 24 Stunden nach der letzten Dosis von Edoxaban verschoben werden sollte, ist das erhöhte Blutungsrisiko gegen die Dringlichkeit des Eingriffs abzuwägen. Nach dem chirurgischen oder sonstigen Eingriff ist die Behandlung mit Edoxaban wiederaufzunehmen, sobald eine entsprechende Hämostase erreicht ist, wobei zu beachten ist, dass die gerinnungshemmende therapeutische Wirkung von Edoxaban innerhalb von 1–2 Stunden einsetzt. (FI Lixiana)
B Situation in Großbritannien
Seitens der Hersteller ist in der REG 174 INFORMATION FOR UK HEALTHCARE PROFESSIONALS unter „General recommendations“ eine qualifizierte Nutzen/Risiko-Abwägung vorgesehen:
Individuals receiving anticoagulant therapy or those with a bleeding disorder that would contraindicate intramuscular injection, should not be given the vaccine unless the potential benefit clearly outweighs the risk of administration.
Sowohl British Heart Foundation („Charity Organisation“ vergleichbar der Deutschen Herzstiftung) als auch Public Health England („Executive Agency“ des UK-Gesundheitsministeriums) haben sich mit Beginn der UK-Impfkampagne vergleichsweise klar positioniert und die i.m.-Impfung als Regelfall auch für Menschen unter Antikoagulation und Plättchenhemmern deklariert.
Is the vaccine safe for people taking blood thinners like warfarin or other anticoagulants?
Like most vaccines, the coronavirus vaccine is injected into the muscle of your upper arm. As with any injection, there is some risk of bleeding. Injections into your muscle may bleed a little more than injections that are given under the skin, but less than those that are given into a vein. If you are taking a blood thinner such as warfarin, or a new anticoagulant, the bleeding may take a little longer to stop and you may get more bruising on your upper arm.
Is the vaccine safe for people taking blood thinners like clopidogrel or other antiplatelet drugs?
Yes. If you are taking an antiplatelet medication, such as clopidogrel, then the vaccine is safe for you to take. You may experience a little more bruising around the injection site. (British Heart Foundation)
Administering COVID-19 vaccine to individuals taking anticoagulants
Individuals on stable anticoagulation therapy, including individuals on warfarin who are up-to-date with their scheduled INR testing and whose latest INR was below the upper threshold of their therapeutic range, can receive intramuscular vaccination. If in any doubt, consult with the clinician responsible for prescribing or monitoring the individual’s anticoagulant therapy.(Public Health England)
Der NHS gab im September 2018 in der Broschüre Can small volume intramuscular injections be given to patients taking oral anticoagulants? praktische Hinweise.
Public Health England vermerkt zum Thema Influenza immunisation information including updates for public health professionals im Oktober 2020:
Es gibt keine Beweise dafür, dass die subkutane Route der Impfung bei Personen, die Antikoagulanzien einnehmen, sicherer ist als die intramuskuläre Route. Der subkutane Weg kann selbst mit einer Zunahme von lokalen Reaktionen verbunden sein.
Personen, die eine stabile Antikoagulationstherapie erhalten, einschließlich Personen, die Warfarin einnehmen, bei denen die regelmäßigen INR-Tests (International Normalised Ratio) auf dem neuesten Stand sind und deren letzter INR-Wert unter dem oberen Schwellenwert des therapeutischen Bereichs lag, können intramuskulär geimpft werden. Für die Impfung sollte eine feine Nadel (23 oder 25 Gauge) verwendet werden, gefolgt von einem festen Druck auf die Stelle (ohne Reiben) für mindestens 2 Minuten. Wenden Sie sich im Zweifelsfall an den Arzt, der für die Verschreibung oder Überwachung der Antikoagulanzientherapie der Person verantwortlich ist. eigene Übersetzung
Einschlägige Studien
- Casajuana et al. untersuchten randomisiert und einfach verblindet 229 Patienten unter oraler Antikoagulation (Acenocoumarol oder Warfarin), denen eine Grippeimpfung entweder subkutan oder intramuskulär (M. deltoideus) verabreicht wurde.(1). Hautläsionen (z. B. Erytheme) 24 Stunden nach Injektion traten nach s.c-Injektion bei 37,4 % und nach i.m.-Injektion bei 17,4 % der Patienten auf (number needed to harm 5 [95 % Konfidenzintervall 3,1-11,3]). Größere Nebenwirkungen traten nicht auf, bei 2 Patienten in der s.c.-Gruppe und 1 Patienten in der i.m.-Gruppe trat ein Hämatom auf.
- Iorio et al. haben 104 Patienten unter Warfarin-Therapie randomisiert und doppelblind entweder Influenza-Impfstoff oder Placebo und nach 14 Tagen cross-over die jeweils andere Substanz. in den Deltamuskel injeziert. (2). Innerhalb weitere 4 Wochen wurden keine größeren Blutungsereignisse beobachtet.
- Raj et al. haben 41 Männer unter Warfarin-Therapie 0,5 ml eines Grippeimpfstoffes i. m. in den M. deltoideus injeziert, gefolgt 5-minütigem festen Druck. (3). Innerhalb der folgenden 14 Tage traten keine lokalen Blutungen oder Veränderungen des Armumfangs auf.
- Delafuente et al. impften einfachblind 26 Männer im Alter ≥60 Jahre unter Warfarin-Therapie mit 0,5 mL Grippeimpfstoff intramuskulär (n=13) oder subkutan (n=13) in die Deltaregion. (4). In beiden Gruppen berichteten jeweils 3 Patienten über Unbehagen oder Schmerzen an der Einstichstelle, lokale Blutungen wurden nicht festgestellt. Bei 10 Impflingen der i.m.-Gruppe wurden im Telefoninterview nach 2 Tagen weder Blutung noch Bluterguss oder Schwellung beschrieben.
- Paliani et al. berichteten 2003 über ihre Fall-Kontroll-Studie aus der Grippesaison 2001-02 bei Patienten unter Antikoagulation (Warfarin 98 %, Acenocoumarol 2 %). (5). 90 Patienten (mittlerer INR 2,79 ± 0,83) nach Grippeimpfung wurden mit 45 adjustierten Kontrollen ohne Impfung verglichen. Die Impfung führte 7-10 Tage nach Impfung zu einem INR-Anstieg um 0,56. Blutungsepisoden (Nasenbluten und Muskelhämatom) traten bei 2 Pat. auf.
- Kuo et al. kommen 2012 in einer Übersichtsarbeit zu dem Schluss, dass eine Influenza-Impfung unter Langzeit-Therapie mit Warfarin keinen konsistenten, klinisch relevanten Effekt auf die INR-Werte hat. (6). Die von ihnen nach Medline- und Embase-Recherche bis 2011 identifizierten 7 Studien erbrachten auch kein erhöhtes Hämatomrisiko nach i.m.-Injektion der Grippeimpfstoffe.
- Dimitrova et al. haben 2020 gepoolte Sicherheitsdaten aus 16 randomisierten, doppelblinden, Plazebo-kontrollierten Studien zur i.m.-Applikation von OnabotulinumtoxinA bei Muskelspastik publiziert. 1182 von 1877 Patienten standen unter antithrombotischer Therapie, davon 948 Plättchenhemmer, 250 Vit-K-Antagonisten und 7 DOAK. Blutungskomplikationen innerhalb von 4 Wo. waren mit antithrombotischer Therapie (1,0 %) nicht häufiger also ohne (1,4 %), auch bei den reinen Antikoagulantien (ohne Plättchenhemmer) war die Häufigkeit nahezu gleich (0,6 vs. 1,3 %). (7)
- Beyer-Westendorf et al. haben 2013 anhand der Sicherheitsdaten aus der Dresden NOAC Registry u. a. Blutungskomplikationen nach 863 chirurgischen oder interventionellen Eingriffen oder auch i.m-Injektionen untersucht. (8). Sie kamen zu dem Schluss, dass die Fortsetzung oder kurzzeitige Unterbrechung einer DOAC-Therapie ohne Bridging für die meisten Patienten bei nicht größeren invasiven Eingriffen eine sichere Strategie darstellt, rieten jedoch dazu, eine sorgfältige Risiko-Nutzen-Abwägung vorzunehmen, bevor patientenspezifische Entscheidungen getroffen werden.
Hinterwandinfarkt mit 2 Stentsetzung, seit 2013 behandlung mit Clopidogrel 75mg jeden Tag. Kann ich mich gegen Covid impfen lassen, ohne Schaden zu nehmen?
Eindeutiges JA!
Lieber Kollege Jürgen Heuser,
mir wurde die ärztliche Leitung des Impfzentrums Brake in der Wesermarsch übertragen. Ihren Artikel würde ich gerne als Unterlage für die im Zentrum impfenden Kollegen kopieren und ausdrucken.
Ihre Zusammenstellung zum Problem Antikoagulation und i.m. Impfung finde ich sehr umfassend und informativ und daher sehr geeignet.
können Sie dem zustimmen?
Vielen Dank
Herzliche Grüße
Ihr
Peter Malinowski
FA für Allgemeinmedizin
Stadlander Str. 87 – 26937 Stadland
Lieber Herr Kollege Malinowski,
ist mir eine Ehre, sehr gerne!
Gutes Gelingen weiterhin und herzliche Grüße zurück
Jürgen Heuser